Martin kommt von einem spannenden Arbeitstag gut gelaunt nach Hause und findet seine Frau Petra deprimiert in der Küche. „Was ist los, mein Schatz?“ – „Ich bin einfach fertig. Ralph ist mit seinen fünf Jahren so anstrengend, dauernd in Aktion, kaum zu bändigen! Heute hat er dein Arbeitszimmer einfach ohne zu fragen in einen ‚Bahnhofsschalter‘ umfunktioniert und dabei alle Möbel umgestellt!“, erzählt Petra kopfschüttelnd. Martin schmunzelt: „Auf die Idee muss man erst mal kommen! Aber für dich ist das natürlich mühsam.“ – „Ja! Allerdings jammert Ralph nie, dass ihm fad ist – im Gegensatz zu Benni.“
Für Eltern ist es nicht immer einfach, die besondere Eigenart eines jedes ihrer Kinder zu erkennen und mit allen Licht- und Schattenseiten anzunehmen. Sich bedingungslos angenommen zu fühlen ist jedoch die Grundvoraussetzung für ein positives Selbstbild des Kindes, aus dem heraus es ihm erst möglich wird, sich noch weiter zu entfalten. Um ihre Kinder wirklich gut kennenzulernen, müssen sowohl Vater als auch Mutter ausreichend Zeit mit ihnen verbringen. Zeit, in der sie jedem Kind – auch einzeln – ungeteilte Aufmerksamkeit schenken können. Gerade wenn Väter in der Wachzeit der Kinder wenig zuhause sein können, sollten sie die wenige Zeit mit ihren Kindern besonders nützen. Dabei geht es darum, sich nicht „nebenbei“, sondern hundertprozentig dem Kind zuzuwenden. Wenn Eltern ihren Kindern aufmerksam zuhören oder mit ihnen gemeinsam etwas tun, spüren die Kinder Wertschätzung durch diese indirekt vermittelte Botschaft: „Du bist für mich wichtig“ und „Ich bin gerne mit dir zusammen“. Oft geht es um Kleinigkeiten im Zusammenleben: Legen Sie die Zeitung aus der Hand, wenn ihr Kind etwas „Wichtiges“ zu erzählen hat, lassen Sie sich bei einem gemeinsamen Spiel nicht von einem Telefonanruf unterbrechen, oder ähnliches.
Nehmen Sie ihr Kind wichtig: Bitten Sie das Kind beim Kochen oder bei einer Reparatur um seine „Mithilfe“, halten Sie Abmachungen wie „Wenn ich nachhause komme, machen wir gemeinsam dein Puzzle“ ein! Durch solche Momente der ungeteilten Aufmerksamkeit lernen Sie gleichzeitig ihr Kind immer genauer kennen und können sein Verhalten besser einordnen. Manche Kinder sind wie Ralph eigeninitiativ, phantasievoll, impulsiv und eher mutig. Dabei fällt es diesen Kindern meist schwer, Regeln einzuhalten, zuwarten, momentane Impulse zu kontrollieren und Ausdauer zu entwickeln. Andere Kinder sind eher ruhig, vorsichtig, zurückhaltend, friedfertig und darauf bedacht, alles „richtig“ zu machen. Gleichzeitig tun sich diese Kinder oft schwer, auszudrücken, was sie denken und fühlen, Neues in Angriff zu nehmen, Kontakt zu anderen Kindern aufzunehmen und sich selbst etwas zuzutrauen. So hat jedes Kind seine natürlichen Stärken, die auf der anderen Seite auch Schwächen beinhalten. Die Kunst der Eltern besteht darin, die Stärken zu stärken und als „Sprungbrett“ zu verwenden, um die Schwächen mit der Zeit zu überwinden. Der phantasiebegabte, unternehmungslustige Ralph kann beispielsweise unter Anerkennung dieser tollen Fähigkeit zum Spielemotor für Benni werden und dabei mit der Zeitlernen, auch auf die Wünsche seines Bruders einzugehen und sich bei seinen Ideen vorher die Erlaubnis seiner Mutter zu holen. Die bedingungslose Liebe der Eltern zum Kind ist die wichtigste Grundhaltung, damit das Kind durch das Verhalten der Eltern spürt: „Auch wenn nicht alles richtig ist, was ich mache, bin ich okay, wie ich bin“.
Dr. Alexandra Schwarz ist Eltern- und Erziehungsberaterin,
Moderatorin der GFO und Mutter von sieben Kindern.