Machtkämpfe

Diesen Nachmittag durfte Boris bei seiner geliebten Oma verbringen. Um halb sechs wird er von seiner Mutter Magda samt der kleinen Schwester abgeholt. „Nein! Ich will noch da bleiben! Du sollst wieder gehen!“, begrüßt Boris seine Mutter. „Es ist schön, dass es dir offensichtlich so gut bei Oma gefällt. Trotzdem müssen wir jetzt gehen, sonst kommt ihr beide zu spät ins Bett.“ – „Nur noch ein Spiel!“, jammert Boris. – „Nein leider. Kein Spiel, es ist halb sechs. Wir müssen gehen.“, beharrt Magda. – „Bähh“, motzt der Kleine, lässt sich auf den Boden fallen und fordert: „Du musst mich anziehen!“ – „Okay, ich ziehe dir die Schuhe an und du die Jacke.“ Als Boris in den Schuhen steckt, nestelt er absichtlich ungeschickt an der Jacke herum und lässt sie wiederfallen. „Boris, es reicht! Ich möchte, dass du jetzt sofort deine Jacke anziehst. Du weißt, wenn wir jetzt so lange brauchen, weil du trödelst, haben wir zuhause keine Zeit mehrfür die Gute-Nacht-Geschichte!“ Grummelnd schlüpft Boris in die Jacke und zieht die Mütze tief ins Gesicht.

Der vierjährige Boris scheint in einer Phase zu sein, in der er immer wieder ausprobiert, ob er die Kontrolle über eine Situation an sich reißen und die Erwachsenen nach seiner Pfeife tanzen lassen kann. Vielleicht ist ihm das am Nachmittag bei seiner Oma gelungen, die ihrem Liebling keinen Wunsch abschlagen will. Seine Mutter reagiert jedoch anders. Als erstes gibt Magda Boris‘ schroff formulierten Wunsch eine positive Begründung: „er ist so gerne bei Oma“, an der sie auch Anteil nimmt: „ich freue mich“. So zeigt sie ihm auf wertschätzende Weise, dass sie sein Anliegen wahrgenommen hat. Auf sein „du sollst wieder gehen“ geht Magda gar nicht ein und bleibt unbeeindruckt. Gleichzeitig formuliert sie klar ihre Anweisung an Boris. Sofort startet Boris den nächsten Versuch: „nur noch ein Spiel“. Magda bekundet Mitgefühl, bleibt aber fest und wiederholt, was zu tun ist. Boris versucht noch einmal die Kontrolle an sich zureißen. In dieser Sache – „Anziehen“ – kann Magda ihrem Sohn entgegen kommen und eine Vereinbarung treffen: „ich die Schuhe – du die Jacke“. Dadurch hat sie wahrscheinlich eine ärgere Eskalation der Situation verhindert, ohne in der eigentlichen Forderung nachzugeben. Wichtig ist, dass Magda dabei ruhig bleibt und nicht etwa mit einem genervten Unterton zischt: „Na gut – ich zieh dir halt die Schuhe an, aber dann gibst du endlich Ruhe!“. Mit so einer Bemerkung und vor allem durch die emotionale Beteiligung wäre Magda doch auf den von Boris initiierten Machtkampf eingestiegen, und er hätte höchstwahrscheinlich mit Wut und Zorn auf beiden Seiten geendet.

Trotz Magdas innerer Ruhe und Festigkeit probiert es Boris noch ein viertes Mal. Die Jacke fällt. Magda wird noch deutlicher und formuliert in Ich-Form: „Ich möchte, dass du…“ Statt eine Strafe anzudrohen wie: „Wenn du nicht folgst, lese ich dir keine Geschichte mehr vor!“, zeigt sie Boris die Konsequenz seines Handelns auf: „keine Zeit für die Geschichte“. Obwohl bei beiden Varianten das Ergebnis „keine Geschichte“ wäre, bedeutet die jeweilige Formulierung einen großen Unterschied: In der ersten Version verhängt die Mutter aus der Position der letztendlich Stärkeren in einem Macht-kampf eine Strafe. Im zweiten Fall zeigt die Mutter aus ihrer Rolle des elterlichen „leadership“ dem Kind die logischen Folgen seines Verhaltens auf und lässt sich nicht in den „Kampfring“ ziehen. Auch wenn es oft schwer fällt: liebevolle Konsequenz istimmer besser.

Dr. Alexandra Schwarz ist Eltern- und Erziehungsberaterin,
Moderatorin der GFO und Mutter von sieben Kindern.