Die Bedeutung der Märchen für Kinder

Vera ist sechs Jahre alt und besucht das letzte Kindergartenjahr. Seit einer Woche kommt sie jeden Tag nach Hause und möchte unbedingt das Märchen von Hänsel und Gretel vorgelesen bekommen. Gerne nimmt sich ihr Vater Peter die Zeit und liest ihr nach dem Mittagessen das Märchen vor – oft sogar mehrfach hintereinander, da Vera dies immer wieder erbittet. Manchmal geht Vera danach in ihr Zimmer und spielt die Handlung mit ihren Stofftieren nach. Heute meint Peter zu seiner Tochter auf die erneute Bitte: „Aber Vera! Immer dasselbe! Das wird doch schon fad! Lesen wir doch einmal ein anderes Märchen!“

Kinder wollen eine Geschichte immer und immer wieder hören, das hilft ihnen dabei, Dinge, die sie in ihrem Leben oder ihrer Umwelt beschäftigen, zu verarbeiten und für sich eine Lösung aus dem Märchen zu finden. Ihre Auffassung vom Leben ist noch stark von der Phantasie durchdrungen. Oft identifizieren sie sich mit ihren Märchenhelden. Es kann sein, dass sie anhand der Abenteuer, die diese erleben, Lösungsstrategien vorgezeigt bekommen, diesie auf Probleme umlegen können, die sie gerade selbst zu bewältigen versuchen.

Beim Märchen ist auch die Phantasie des Kindes gefragt. Es ist suggestiv und beantwortet Fragen, gibt Lösungen, spricht diese aber nicht direkt aus.Das Märchen überlässt es der Phantasie des Kindes,was es von der Geschichte für sich herausnehmen und auf sich beziehen will. Es kann für Kinder eine Anregung sein, im eigenen Leben Ordnung entstehen zu lassen, wenn es ihnen geradezu verwirrend erscheint. Veras Vater versteht nicht, dass es Veragar nicht langweilig ist, täglich dieselbe Geschichte zu hören. Anscheinend gibt es für Vera etwas darin, das sie fasziniert oder ihr bei etwas hilft. Auf Grund der bildhaften Sprache können Kinder Märchen gleich verstehen und als Projektionsflächen eigener seelischer Vorgänge benützen. Obwohl die Erfahrungen der Märchenfiguren nicht auf einer Ebene mit der realen Umwelt des Kindes liegen, können die Inhalte der Märchen dennoch Wahrheiten und Erkenntnisse vermitteln. Das Kind kann durch die Schwarz-Weiß-Malerei des Märchens Ordnungsprinzipien erkennen. Durch die Identifikation mit dem Helden oder der Heldin der Geschichte erkennen Kinder Gut und Böse, Recht und Unrecht. Das eigene Rechtsempfinden wird durch die Haltung zu der Märchenfigur artikuliert und der Sieg des Guten erweckt im Kind ein optimistisches Weltbild. Durch Mut, Vertrauen und Hilfsbereitschaft kann diese Figur die ihr gestellten Aufgaben bewältigen.

Das Essenzielle der Märchen ist also nicht die Moral, sondern die Garantie, dass man Erfolg haben kann, wenn man Vertrauen hat. Die optimistische Sicht der Geschichte kann Teil der Welterfahrung des Kindes werden, wenn dieses das Märchen viele Male hört. So entscheidet Vera selbst, nach ihren eigenen Gefühlen, welchem Märchen ihre innere Situation gerade entspricht und was ihr davon Hilfefür die Lösung eines Problems oder einer Frage gibt.

Mag. Stefanie Jakesz ist Erziehungsberaterin.
http://www.erziehungsberatungwien.at