Lucas zeichnet mit Feuereifer zum ersten Mal mit seinen neuen Filzstiften. Sein kleiner Bruder Paul, der gerade noch zufrieden mit seinen Autos gespielt hat, holt sich kurz darauf auch ein Zeichenblatt, setzt sich neben Lucas und stibitzt sich vorsichtig einen Filzstift. „Das sind meine Stifte! Gib her! Du bist viel zu klein und zu dumm!“, schreit Lucas, reißt Paul den Stift aus der Hand und schubst ihn vom Stuhl. Paul schreit wie am Spieß und beide Eltern kommen sofort aus dem Wohnzimmer angerannt. Marlene hebt den schreienden Kleinen vom Boden auf und Heinrich stellt Lucas zur Rede: „Was ist denn jetzt schon wieder los? Hast du Paul wehgetan?“
Wie wird die Szene wohl weitergehen? Wird Lucas die Gelegenheit bekommen, seinen „Schubser“ zu erklären? Oder wird ihm Paul mit einer Anschuldigung zuvorkommen: „Luki hat mich vom Sessel geschmeißt!“
Eltern stehen manchmal mehrmals täglich plötzlich inmitten so eines geschwisterlichen „Schlachtfeldes“. Intuitiv nehmen sie oft sofort die Rolle eines Schiedsrichters ein und versuchen, möglichst schnell wieder Frieden „herzustellen“. Das kann kurzfristig gut gehen, kann aber auch längerfristig die Fronten erst recht verhärten oder ein Kind als „Streithansel“ ins familiäre Out drängen und ein anderes Kind in der Rolle der „Heulsuse“ festnageln. Wenn mit Lucas jetzt geschimpft würde, weil er grob zu seinem Bruder war, ohne dass Marlene und Heinrich auch ihn anhören und verstehen, dass er auch „seine Sachen“ – „nur für Große“ – haben sollte, könnte sich Lucas mit der Zeit in seinen Bedürfnissen nicht wahrgenommen fühlen. Dies könnte dazu führen, dass er seinen Bruder nur mehr als lästigen Konkurrenten empfindet, gegen den er sich verteidigen muss. Paul hingegen könnte das bald ausnützen und bei jeder Kleinigkeit nach den Eltern schreien, um mit dieser Rückendeckung seinen Willen durchzusetzen.
Eltern sollten in Streitereien ihrer Kinder möglichst wenig eingreifen. Wenn, dann hinterfragend und nicht verurteilend. Marlene und Heinrich könnten zunächst ohne Unterton in der Stimme fragen, was genau passiert sei. Kommen dann nur gegenseitige Vorwürfe, ist es hilfreich, den Kindern zu helfen, diese Beschuldigungen in eigene Anliegen umzuformulieren: Statt „Paul nimmt einfach meine Stifte!“ – „Aha und du möchtest in Ruhe zeichnen und deine neuen Stifte noch nicht herborgen?“ Pauls „Luki hat mich vom Sessel geschmeißt“ könnte mit „Warum denkst du, hat er das gemacht?“ hinterfragt werden. Nachdem jedes Kind sicher sein kann, dass sein Anliegen gehört wurde, können die beiden Buben mit Unterstützung der Eltern eine Lösung finden, wie es ohne Schubsen gehen könnte. Erzieherisches Ziel sollte immer sein, dass Eltern die generellen Regeln des Umgangs mit Konflikten vorgeben und die Kinder immer öfter selbst die konkreten Lösungen finden. Wenn Kinder jedoch durch Müdigkeit, Krankheit, Hunger oder anderen Stress bereits schlecht gelaunt sind, ist der Geschwisterstreit oft nur Ventil für ihre negative Grundstimmung und sie haben keine Ressourcen mehr für Kompromisse. Dann müssen die Eltern die Situation übernehmen. Wichtig ist, dass sich jedes Kind von seinen Eltern wahrgenommen und geliebt fühlt. Eine Möglichkeit, dies zu vermitteln, ist, sich abends ein paar Minuten Zeit für jeden einzeln zu nehmen – vielleicht an der Bettkante sitzend.
Dr. Alexandra Schwarz ist Eltern- und Erziehungsberaterin,
Moderatorin der GFO und Mutter von sieben Kindern.