Jeden Freitag holt Chris seinen Sohn vom Kindergarten. Wie so oft kommt er fünfzehn Minuten zu spät. Fabian sitzt fertig angezogen in der Garderobe und hält seine Zeichnung in der Hand. Er springt seinem Papi freudig entgegen und hält ihm strahlend die Zeichnung unter die Nase: „Schau Papi, ein Tyrannosaurus Rex, der gerade kämpft und …“. „Jetzt wart‘ einmal, Fabian!“, stoppt ihn Chris undwendet sich an die Pädagogin: „Tut mir wirklich leid, wieder zu spät! Schönes Wochenende! Komm schnell, Fabi, wir gehen!“. Chris nimmt Fabian an der Hand und zieht ihn in das Stiegenhaus. „Aber Papi, meine Zeichnung!“ – „Die zeigst du mir zu Hause, Mami wartet“, erklärt Chris und steckt die Zeichnung in seine Aktentasche. Bockig lässt sich Fabian zur Straßenbahn schleppen. Dort reißt er sich los, rennt zum hintersten Eingang und setzt sich dicht ans Fenster. Chris eilt hinterher und schimpft: „Fabian! Was ist mit dir los! Du bleibst gefälligst bei mir!“ Ärgerlich holt Chris sein Smartphone raus und liest die letzten Nachrichten.
Ziemlich wahrscheinlich wird das heute mit Fabian kein harmonischer Nachmittag werden. Fabian wird möglicherweise noch durch einige andere Faxen auf seinen Unmut aufmerksam machen. Kinder können selten auf direkte Weise ihre Enttäuschungen artikulieren – so wie: „Papi, du hast meine Saurier-Zeichnung immer noch nicht angeschaut und sie ist doch so toll gelungen! Und außerdem hast du nicht gemerkt, dass ich ganz brav auf dich gewartet habe, obwohl das ziemlich fad war.“ Anfangs drückt Fabian seinen Wunsch zweimal ganz direkt aus. Da sein Vater nicht wirklich darauf eingeht, beginnt die indirekte Kommunikation: sich beim Gehen ziehen lassen, schweigen, losreißen, wegsetzen. Gerade wenn Eltern in Gedanken noch ganz woanders oder einfach gestresst sind, haben sie oft den Auslöser, durch den alles begann, schon längst vergessen. Es könnte sein, dass Chris die Zeichnung in seiner Aktentasche überhaupt nicht mehr im Kopf hat.
Im Fall von Fabian und Chris gibt es die Chance, dass sich durch die Mutter zu Hause die Spannung löst. Vielleicht probiert Fabian es mit Mami noch einmal und erzählt ihr schon beim Betreten derWohnung von der Zeichnung, die dann aus Papis Tasche „befreit“ und endlich bewundert wird. Meist ist so der negative Bann gebrochen. Wäre aber das erste, was mit Mami gesprochen wird, eine Beschwerde über Fabians Benehmen – etwa: „Die Abholerei aus dem Kindergarten ist wirklich mühsam. Ich bin völlig geschlaucht und der folgt überhaupt nicht!“, dann verrennt sich das Kind je nach Veranlagung entweder in Richtung Heulkonzert oder Rückzug im Kinderzimmer oder wiederum zu negativen Faxen – alles als indirekte Kommunikation seiner Enttäuschung. Wie oft beginnt ein großes „Theater“ mit einer Kleinigkeit, die für das Kind wichtig ist und die die Erwachsenen nicht wahrgenommen haben! Kinder wollen gehört und gesehen werden. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass immer alles nach ihrem Kopf oder ihren momentanen Wünschen geschehen muss. Chris hat zwei Möglichkeiten, Fabian in gebührender Weise wahrzunehmen. Er könnte sich einerseits einfach ein oder zwei Minuten Zeit nehmen, sich die Zeichnung erklären lassen und so für seinen Sohn und dessen Welt Interesse zeigen. Genauso könnte Chris aber auch sagen: „Oh, die Zeichnung schaut wirklich toll aus! Ich möchte jetzt aber schnell gehen! Schau, steck‘ sie in meine Tasche, damit sie nicht verknittert wird. Und in der Straßenbahn zeigst du sie mir dann genau.“ Wenn Kinder sich gehört und gesehen wissen, dann können sie auch aushalten lernen, dass ihr Bedürfnis oder Anliegen nicht gleich erfüllt wird. Auch das ist wichtig für ihr ganzes Leben.
Dr. Alexandra Schwarz ist Eltern- und Erziehungsberaterin,
Moderatorin der GFO und Mutter von sieben Kindern.