Vorbild im Kleinen

Christa versucht, ein langes Telefongespräch mit ihrer Freundin zu beenden: „Nein leider! Wir können wirklich nicht, wir bekommen heute Besuch. Vielleicht ein anderes Mal.“ Als Christa endlich aufgelegt hat, fragt ihre kleine Tochter Berni aufgeregt: „Mami, wer kommt denn heute zu Besuch? Die Tante Paula?“ Christa seufzt: „Nein, mein Liebling, heute kommt niemand. Weißt du, das verstehst du noch nicht. Das Leben ist nicht immer so einfach.“ Berni schaut ihre Mami mit verständnislosen Augen an und hebt die Arme, um hochgenommen zu werden.

Manchmal sind wir Erwachsene uns nicht bewusst, dass unsere Kinder uns von früh bis spät beobachten und alles in sich aufsaugen. So fällt es einem Außenstehenden oft sehr deutlich auf, wie ein kleiner Bub die Körperhaltung seines Vaters imitiert oder ein kleines Mädchen Wortwahl und Stimmführung ihrer Mami am Spielzeug-Telefon perfekt trifft . Dieses Lernen am Modell ist unablässig für die Entwicklung des Menschen. In der Erziehung ist es daher wichtig, dass Eltern und andere Bezugspersonen des Kindes das vorle- ben, was sie dem Kind vermitteln wollen. Kinder haben ein feines Gespür dafür, wann Erwachsene nicht so handeln, wie sie es von ihren Kindern erwarten würden. Christa verwendet eine nicht zutreffende Aussage, um ihre Freundin abzuwimmeln. Das ist für ihre Tochter Berni unverständlich und es bleibt bei ihr abgespeichert: Mami sagt manchmal Sachen, die so nicht stimmen. Sollte Berni öfter solche diplomatische Ausreden miterleben, wird es schwierig, ihr zu vermitteln, dass andererseits sie ruhig ehrlich zug eben kann, wenn sie etwas Verbotenes gemacht hat, ihr ein Missgeschick passiert ist oder wie der Streit mit ihrer Schwester wirklich angefangen hat. Berni wird nicht so leicht zu „Kunstgriffen“ neigen, wenn Christa am Telefon zu ihrer Freundin einfach rundheraus gesagt hätte: „Weißt du, für uns passt es heute einfach gar nicht.“

Auch wenn sich Eltern oft nichts dabei denken, wenn sie sich in „Kleinigkeiten des Alltags“ aus Eile oder Bequemlichkeit eine „Ausnahme“ von den Familienregeln genehmigen, bleibt dies doch bei den Kindern meist nicht unbemerkt. Manchmal kommentieren sie das auch gleich spontan, oft wird es aber einfach nur „abgespeichert“. Wenn sich zum Beispiel der Vater öfter mal im Auto nicht anschnallt, werden gerade größere Kinder immer wieder versuchen, diese Vorschrift ebenfalls zu umgehen – schon alleine deshalb, weil sie auch so „cool“ wie Papi sein wollen. Dasselbe gilt für nicht aufgehängte Mäntel, Naschen zwischendurch, einen giftigen Kommentar über die Nachbarin, etc. Es ist schwer, von Kindern etwas einzufordern, wozu man sich selbst nicht überwindet. Alle großen Ziele für die Erziehung der Kinder findet man auch im scheinbar Unbedeutenden: Ehrlichkeit, Ordnung, F reundlichkeit, Selbstüberwindung, etc.

Kurz gesagt, besteht ein Großteil der Erziehung darin, dass Eltern sich bemühen, auch in den kleinen Dingen des Alltags, ihren Werten entsprechend zu handeln. Das bedeutet aber gerade nicht, keine Fehler zu haben, sondern immer wieder von neuem zu beginnen.

Dr. Alexandra Schwarz ist Eltern- und Erziehungsberaterin,
Moderatorin der GFO und Mutter von sieben Kindern.